- Literaturnobelpreis 1917: Karl Gjellerup — Henrik Pontoppidan
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Der Däne Gjellerup wurde für seine »von hohen Idealen getragene Dichtung«, sein Landsmann Pontoppidan für seine »anschauliche Schilderung des zeitgenössischen Lebens in Dänemark« ausgezeichnet.BiografienKarl Gjellerup, * Roholte (Dänemark) 2. 6. 1857, ✝ Dresden 11. 10. 1919; 1874 Abitur, Studium der Theologie, Examen 1878; 1883 Romreise, 1885-87 Dresden, 1892 Übersiedlung nach Dresden, von nun an eine Reihe von Dramen und Romanen auf Deutsch.Henrik Pontoppidan, * Fredericia (Jütland) 27. 7. 1857, ✝ Kopenhagen 21. 8. 1943; 1874 Realschulexamen; Studium an der Polytechnischen Lehranstalt Kopenhagen, 1879 Abbruch des Studiums, 1881 Beginn der Schriftstellerkarriere, während der er zu einem der bedeutendsten Literaten Dänemarks wurde.Würdigung der preisgekrönten LeistungMan konnte sich damals und man kann sich auch heute kaum gegensätzlichere Schriftsteller vorstellen als diese beiden, die sich 1917, ein Jahr nachdem ein anderer Skandinavier, Verner von Heidenstam, ausgezeichnet worden war, den Literaturnobelpreis teilen mussten — der eine längst vergessen, der andere immer noch gelesen und beliebt. Gemeinsam haben sie lediglich das Geburtsjahrt 1857, die Herkunft aus dem Pfarrhaus und ein umfangreiches Prosawerk (freilich haben beide auch in den anderen Gattungen fleißig geschrieben).Poet des BuddhismusDass der Preis geteilt wurde, hatte unter anderem damit zu tun, dass der Däne Georg Brandes, der schon viele Jahre als Kandidat gehandelt wurde, nicht mehrheitsfähig war: Als gesellschaftskritisch engagierter Schriftsteller war er nicht durchzusetzen, die ästhetischen Maßstäbe der Akademie waren immer noch die einer älteren Zeit. Deshalb würdigte man Gjellerup »in Anerkennung seiner reichen, vielfältigen, von hohen Idealen getragenen Dichtung«. Doch so hatte Gjellerup nicht seine Laufbahn begonnen, im Gegenteil: Er begann als ein nachdrücklicher Anhänger der Anschauungen von Georg Brandes, dem er 1881 als »Sankt Georg« huldigte, 1887 allerdings war er ihm zur »Pestbeule« der nordischen Literatur geworden. In seinem frühen Roman »Ein Idealist« (1878) hatte er noch eine scharfe Abrechnung mit dem Christentum vorgenommen und an dessen Stelle den Hellenismus setzen wollen (und ähnlich war es auch in seiner Gedichtsammlung »Rotdorn«, 1881). Er beschäftigte sich auch wissenschaftlich mit der neuen Darwin'schen Evolutionslehre, für seine Abhandlung »Erblichkeit und Moral« (1881) erhielt er die Goldmedaille der Universität Kopenhagen.In seinem Roman »Ein Jünger der Germanen« (1882) beschreibt er ganz im kulturradikalen Sinne die Entwicklung eines Theologen zum Antitheologen. Der Titel dieses Romans deutete schon die Richtung an, die Gjellerup dann einschlug: eine Hinwendung zum deutschen Geistesleben und zur deutschen Sprache (nach seiner Übersiedlung nach Dresden 1892 schrieb er seine späten Werke zuerst auf Deutsch und übersetzte sie dann in seine Muttersprache). 1885 hatte er in seinem Reisebuch »Das Wanderjahr« mit der radikalen Richtung gebrochen. Ein Jahr zuvor war seine »lyrische Tragödie« »Brynhild« erschienen, in der er auf einen altisländischen Stoff zurückgreift, beeinflusst von Richard Wagner, dem er 1890 einen Essay widmete. Sie war unspielbar, wurde auch nicht aufgeführt, blieb ein reines, schwer verdauliches Lesedrama (auch wenn ihm die Schwedische Akademie »großen poetischen Reichtum und lyrische Schönheit, Idealismus und moralische Erhabenheit« attestierte).Welterfolg errang Gjellerup mit seinem Roman »Der Pilger Kamanita« (1906), eine Geschichte aus der Zeit Buddhas, in der er den Buddhismus — allerdings vergeblich — zu popularisieren versuchte. Seine letzten Werke, die eine gewisse Rückkehr zum Christentum anzeigen, sind von buddhistischer, oder genauer von Schopenhauer'scher Weltverachtung geprägt. Seine Werke nach der Mitte der 1880er-Jahre sind eine eigenartige Mischung aus Idealismus, Romantik, Buddhismus, Wagnerianismus, verbunden mit Zügen des Antisemitismus. Er selbst rechnete seine Dramen und Romane nach der Jahrhundertwende als der deutschen Literatur zugehörig. Seine gigantischen Ambitionen beeindruckten lediglich die Schwedische Akademie.Henrik Pontoppidan erhielt die Auszeichnung »für seine anschaulichen Schilderungen des zeitgenössischen Lebens in Dänemark«, das aber keineswegs eine reine Idylle war. Sein zentraler Beitrag zur dänischen Literatur bestand in drei umfangreichen Romanzyklen. Der erste war »Das gelobte Land« (1891-95). In den drei zusammenhängenden Romanen, die noch weitgehend der naturalistischen Schreibtechnik verpflichtet sind, schildert Pontoppidan den Ausbruch eines jungen Theologen aus dem sicheren Kopenhagener Milieu, um Pfarrer auf dem Land zu werden und die Bauern zu »bekehren«; doch scheitert er hier genauso wie nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen. Er erliegt schließlich seinen Wahnvorstellungen.Aber dies ist nicht allein die Geschichte des Pastors Emanuel Hansted, sondern es ist zugleich eine Art soziologischer Studie über die dänische Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; vom Minister bis hinab zum Bettler wird ein breiter Querschnitt durch die Bevölkerung dargeboten. In diesem Zeitraum spielt auch der nächste Romanzyklus »Hans im Glück« (1898-1904), in dem der Pastorensohn Per Sidenius aus der Provinz gegen den Vater und das von diesem vertretene Christentum aufbegehrt. Er wird Ingenieur, begibt sich nach Kopenhagen, um schnell viel Geld zu verdienen. Doch sein Projekt, die jütländische Heimat zu modernisieren, scheitert. Die Zweifel an seiner areligiösen Einstellung wachsen, besonders nach dem Tod zuerst des Vaters und später der Mutter. Er kehrt in die Provinz zurück, im christlichen Glauben findet er jedoch keine Ruhe mehr. Gänzlich zurückgezogen verlebt er den Rest seiner Tage. Ernst Bloch kannte und schätzte den Roman, Georg Lukács rückte ihn gar in die Nähe von Gustave Flaubert.In diesen beiden Romanzyklen werden zwei Seiten des moderner werdenden Dänemarks vorgezeigt: Die alte Feudalgesellschaft und das christliche Denken werden durch den Einzug der industriellen Welt abgelöst. Was diese Romane heute noch lesbar macht, ist nicht so sehr die Schilderung einer sich verändernden Welt — dies freilich auch —, sondern der durch Ironie hergestellte doppelte Blick. Hierdurch überwand Pontoppidan sowohl die naturalistische wie die impressionistische Seh- und Schreibweise.Ironie und die Grundstimmung der Resignation bestimmen den letzten Romanzyklus »Totenreich« (1912-16), von der Schwedischen Akademie nicht so geschätzt wie die beiden vorausgehenden. Hier zieht der Verfasser die Linie bis in die Gegenwart und zeichnet wiederum ein breites Panorama unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. Die Gesellschaft leidet an Zivilisationskrankheiten, eine Untergangsstimmung umfasst sozial und geographisch das ganze Land. Die Menschen jagen nach eingebildetem Glück, ihre Befreiung aus sozialer und ideologischer Unterdrückung ist nicht erfolgt, nur Machtgier und Egoismus haben sich breitgemacht, alte moralische Bindungen sind gelöst, und somit ist die neue Gesellschaft nicht »das gelobte Land«, sondern vielmehr das »Reich der Toten«. Im Gegensatz zu Gjellerup, der an den sozialen, religiösen und politischen Kämpfen seiner Gegenwart nicht sonderlich interessiert war — er konnte, folgte man der Schwedischen Akademie, zu Recht als »der klassische Poet des Buddhismus« gelten —, nahm Pontoppidan nachdrücklich Stellung zu dem, was die Zeit und was ihn interessierte.H. Uecker
Universal-Lexikon. 2012.